stillstehende orte für bewegung
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Hallo,

 

vielleicht habt ihr bemerkt, dass die Benefiz-Aktion zu Gunsten der Erdbebenopfer noch nicht stattgefunden hat. Der Termin wurde zweimal verschoben. Ich schreibe Euch, wenn ich weiß, wann er stattfinden wird.

 

Heute habe ich eine andere Bitte an Euch. Ich schreibe gerade an einem Artikel für das ICM-Magazin. Bevor ich den nächste Woche ins Englische übersetze, wollte ich Euch nach Eurer Meinung zu der deutschen Version fragen.

stillstehende orte für bewegung

Bewegung ist der Zusammenhang von Zeit und Ort. Beim Fotografieren mit beabsichtigten Bewegungen verwischen die Grenzen der Begriffe. Was steht still und was bewegt sich? Wo ist der Bezugspunkt und was das Objekt? Ich kann durch die Bewegung der Kamera Stillstehendes beweglich erscheinen lassen. Aber was ist, wenn ich Bewegung selbst festhalten will? Meine Suche nach Bewegung führt mich an die Orte, die erst für Bewegung geschaffen worden sind.

erfindung des ortes

Ende des 19. Jahrhunderts rückten die Städte zusammen. Orte und Entfernungen blieben zwar konstant. Aber die gefühlte Entfernung schrumpfte mit jeder neuen Zugverbindung. Verbindungen zur Nachbarstadt - zur nächsten Metropole, zur Hauptstadt oder zur Stadt im Nachbarland. Bewegung und Geschwindigkeit wurden zum neuen Maßstab.  
Es musste eine neue Art von Ort erfunden werden: Ein stationärer Ort für Bewegung – einen Ort für das Ankommen und das Abfahren. Und jede Stadt, die den Anschluss an die Zeit nicht verlieren wollte, brauchte so einen imposanten Bahnhof.

erfindung der zeit

Und diese neue Zeit war eine normierte. Erst durch die Bahnhöfe haben wir eine gemeinsame Zeit. Vorher hatte jeder Ort seine eigene Zeit. Erst durch die Bewegung der Züge wurde es notwendig, Zeiten zu synchronisieren.
In meiner Kindheit wurden einmal pro Minute alle Bahnhofsuhren synchronisiert. Die Bewegung der Zeiger stoppte bei 60 Sekunden, bevor sich alle Zeiger im Land gleichzeitig wieder in Bewegung setzten und eine neue Runde starteten. Selbst wenn die Züge Verspätung hatten – das kam allerdings selten vor – gingen die Uhren einmal in der Minute im Takt.

finden des lichts

Wenn ich die Fotos meiner Suche anschaue, ist schwer festzustellen, ob das jeweilige Foto in Norddeutschland, in der Schweiz oder in Italien entstanden sind. Erst der Zeitindex der Fotografie verortet die Bahnhöfe für mich.

Die Architektur der Bahnhöfe, die um die vorletzte Jahrhundertwende entstanden sind, war monumental gedacht und individuell. Und doch gab es Gemeinsamkeiten. Stahlträger und Glas vermittelten Leichtigkeit. Licht durchströmte diese neuen Kathedralen. Dann fuhren die Dampflokomotiven durch die Glaspaläste und schwärzten Zug um Zug die Gläser. In meiner Kindheit waren Bahnhöfe graubraune, zugige Orte. Erst nach und nach kommt mit der Elektrifizierung das Licht zurück in die Bahnhöfe. Auch, wenn die Hallen dafür angehoben werden mussten. 

denkmäler für geschwindigkeit

Wenn ich auf die Physik der Geschwindigkeit schaue, finden sich drei Größen darin: zwei Orte und die Zeit. Es muss für die Menschen des 19. Jahrhunderts wie ein Rausch gewesen sein. Die Zeit schrumpft, die Orte wachsen über ihre Stadtmauern hinweg. Plötzlich ist die Zeit verhandelbar.
Die Investor*innen und die Bürger*innen um 1900 schufen ihre eigene neue Bildsprache. Neue Heilige zieren seitdem die Eingangsprotale. Handel und Geschwindigkeit bekommen Denkmäler. Die Weltkugel kommt in jede Stadt. Alles scheint erreichbar.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden viele Bahnhöfe verlängert und verbreitert. Diese Anbauten wirken profaner und weniger sakral. Wenige Bahnsteige bekamen Betonbögen.

Die meisten mussten sich mit Blockdächern begnügen. Die Orientierung braucht immer mehr Vereinheitlichung. Es macht immer weniger Unterschied, wo ein Bahnhof steht.

erfindung der zukunft

Die Eisenbahn und die im 19. Jahrhundert erdachten Bahnhöfe könnten Romanen von Jules Verne entsprungen sein. Heute scheinen sie ihre Futuristik verloren zu haben. Und doch werden sie zur Schlüsseltechnologie der kommenden Jahrzehnte. Ein gewachsenes System verändert sich nur langsam. Anders als im 19. Jahrhundert ist das Netz nun da und an der Grenze des Leistbaren. Es muss ausgehandelt werden, was erreichbar bleibt. Und vielleicht wird die eine oder andere stillgelegte Linie der letzten Jahrhunderte in Zukunft wieder gebraucht.

festhalten des blickes

Wenn man an einen Ort, an dem sich Menschen und Maschinen bewegen, die Kamera bewegt, lösen sich die einzelnen Menschen in Schemen auf. Wie in einem Kaleidoskop zerfällt das Licht und wird neu zusammengesetzt. Züge werden zu Linien und zeigen Richtungen aus dem Bahnhof hinaus. Symmetrien der Funktionalität lassen schwer orten, welcher Zug sich in welchen Bahnhof befindet. Die Eisenbahn trägt ihre Ästhetik in sich und bringt sich überall hin, wo sie ist.

Werbung ist bunt und grell und will so gar nicht zur Architektur passen. Und doch wird sie mehr betrachtet. Wartende suchen mit ihren Blicken nicht nach Sichtachsen und Fluchtpunkten. Sie suchen nach Farbe und einfangenden Schlagworten.

festhalten des lichts

Durch die beabsichtigte Kamerabewegung geraten auch die Glasstrukturen in Bewegung. Das Stationäre fügt sich mit dem Bewegtem zusammen und bildet eine Einheit. In meinem Objektiv meine ich den Grundgedanken der Architektur besser zu erkennen, als durch das bloße Objekt.
Für mich ist der Bahnhof ein Ort, an dem Menschenleere in regelmäßigen Abständen auf hektische Betriebsamkeit trifft. Warten trifft auf Abfahren. Ankommen auf Verpassen. Wiedersehen auf Abschied. Im Takt des Fahrplans strömen Menschen an mir vorbei. Meine kleinen Bewegungen der Hand verwirren. Aber für die meisten bin ich ein statisches Hindernis.
So verschwimmen am Bahnhof die statischen Momente mit den Bewegten.

Im Bild:
Basel SBB (1907), Frankfurt Hbf (1888), Hamburg Hbf (1906), Heidelberg Hbf (1955), Lübeck Hbf (1908), Milano Centrale (1931), Zürich HB (1871)

Ich freue mich auf Eure Rückmeldungen und Ergänzungen.

 

viele bewegte Grüße

Martin

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